Der Krieg und die Folgen

Der Zweite Weltkrieg und die Zeit der NS-Diktatur sind vorbei. Dennoch reichen die Schatten jener Zeit bis in die Gegenwart, denn in den Familien von damaligen Opfern und auch Tätern finden sich heute noch Spuren von traumatischen Erfahrungen als Gefühlserbschaften, auch wenn die nach 1945 geborenen Generationen Krieg, Verfolgung, Flucht und Tod nur von den Angehörigen und nicht aus eigenem Erleben kennen. Diese sogenannte „transgenerationale Weitergabe“ ist das Thema von Prof. Dr. Angela Moré, Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Hannover. Wir haben mir ihr gesprochen.

Prof. Dr. More wProf. Dr. Angela Moré ist außerplanmäßige Professorin für Sozialpsychologie an der Leibniz Universität Hannover und zudem Gruppenanalytikerin. Bisher war sie an verschiedenen Universitäten und Hochschulen im In- und Ausland tätig. Im Jahr 2018/19 Fellow am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld im Forschungsprojekt „Felix culpa - Zur kulturellen Produktivität von Schuld“. Forschungsgebiete sind psychoanalytische Sozial- und Entwicklungspsychologie, Genderforschung, sozialpsychologische Zugänge zu Kultur-und Ideengeschichte, transgenerationale Weitergabe von Traumata und Schuld sowie unbewusste Prozesse in Klein- und Großgruppen.

Frau Prof. Dr. Moré, was sind transgenerationelle Kriegstraumata?

Wenn jemand im Krieg war und er diese Erfahrung nicht verarbeiten kann, das Erlebte also wegdrängt, dann spüren die Kinder des Betroffenen, dass es im Leben dieses Elternteils Bereiche gibt, an denen man besser nicht rühren sollte, weil die Eltern beispielsweise dem Gespräch ausweichen oder auch wütend auf Fragen reagieren. Es kommt dann zu affektiven Reaktionen, welche die Kinder nicht verstehen. Dies hat zur Folge, dass Kinder der Traumatisierten in sich sowohl den Drang zur Auflösung des von den Eltern vermittelten „Rätsels“ verspüren als auch ein Tabu, direkt nachzufragen. Die in der Übertragung wahrgenommenen Gefühle lösen Bilder und Fantasien aus und führen teilweise zum Ausagieren derselben in Handlungen. Dies nennt man transgenerationelle Weitergabe.

Kann die Weitergabe von Traumata zwischen den Generationen übersprungen werden?

Es ist immer zuerst die nächste Generation betroffen. Wenn es in der betroffenen Generation Geschwister gibt, kommt es häufig sogar zu einer emotionalen „Arbeitsteilung“. Ein Geschwister beschäftigt sich intensiv mit dem Trauma eines Elternteils oder beider, die anderen möchten damit nichts zu tun haben und erklären die Schwester oder den Bruder gegebenenfalls für verrückt. Sich nicht mit der Traumatisierung oder Schuld der Eltern zu befassen und diese zu verdrängen oder zu verleugnen kommt einer Aufrechterhaltung des elterlichen Tabus gleich.

In der hebräischen Bibel heißt es: Gott wird euch strafen bis ins dritte und vierte Glied. Ist die Idee einer Erbschaft zumindest im religiösen Kontext nicht neu?

Ich denke, diese Erbschaft ist etwas, das in der menschlichen Psyche verankert ist. Es ist ein Teil menschlicher Entwicklung, der zu uns gehört. Vielleicht war das in früheren Generationen nicht so sichtbar, weil man mehr in größeren Familienverbänden aufgewachsen ist, quasi mehrere Generationen von beiden Eltern zusammen mit dem Gesinde unter einem Dach oder auf einem Hof lebten. Dadurch relativierten sich die Einflüsse einzelner Erwachsener auf Kinder. Die Forschung nimmt an, dass im Dreißigjährigen Krieg, weil durch ihn mehrere Generationen traumatisiert wurden, diese transgenerative Weitergabe zum ersten Mal intensiver in unserem Kulturkreis spürbar wurde, obgleich dies vielen Menschen nicht bewusst wurde. Dennoch entsteht, wie auch das Bibelzitat zeigt, eine Ahnung in verschiedenen Kulturen davon, dass sich befremdliche Verhaltensweisen von Nachkommen traumatisierter Menschen aus den schrecklichen Erlebnissen der vorhergehenden Generationen erklären lassen.

„Es gibt bei Kindern eine Tendenz, den Eltern das Leiden abnehmen zu wollen, denn der Erwachsene soll „heil“ sein im Sinne einer gesunden Vitalität, damit er sich um das Kind kümmern kann. Es möchte dem Erwachsenen das Schmerzhafte abnehmen, aber es reinszeniert auch das bei der Mutter Erspürte, um es besser verstehen zu können.“

Es gibt prominente Beispiele wie das des Schriftstellers Hanns-Josef Ortheil. In „Die Erfindung des Lebens“ erzählt er die Geschichte seiner Kinderjahre. Weil seine Mutter nach dem Verlust der vier Söhne im Zweiten Weltkrieg ihre Sprache verloren hat, bleibt Ortheil bis zu seinem 7. Lebensjahr stumm.

Hier könnte man zunächst denken: Wie soll ein Kind sprechen lernen, wenn die Mutter nicht spricht? Aber es gab ja noch andere Menschen im Umfeld des kleinen Hanns-Josef. So liegt es nahe anzunehmen, dass dieses Kind das Verhalten seiner Mutter imitiert. Es spürt, dass das Sprechen für die Mutter ein Tabu ist, ebenso wie das Fröhlichsein. Ein Kind identifiziert sich mit der Mutter. Aber es gibt bei Kindern auch eine Tendenz, den Eltern das Leiden abnehmen zu wollen, denn der Erwachsene soll „heil“ sein im Sinne einer gesunden Vitalität, damit er sich um das Kind kümmern kann. Es möchte dem Erwachsenen das Schmerzhafte abnehmen, aber es reinszeniert auch das bei der Mutter Erspürte, um es besser verstehen zu können.

Gibt es Unterschiede hinsichtlich des innerfamiliären Konflikts in Täter- und Opferfamilien in Bezug auf das Thema Schuld?

Es gibt Unterschiede. Wenn beispielsweise ein Häftling Auschwitz überlebt hat, schämt er sich im Laufe seines Lebens dafür, dass er überlebt hat. Vielleicht musste er sogar für sein Überleben das Brot oder die Kleidung eines Mithäftlings stehlen, wie es z. B. Primo Levi als ganz normale Realität des Lageralltags schildert. Das bezeichnet man als die sogenannte Überlebensschuld. Besonders tragisch ist es, wenn zusätzlich noch die eigenen Kinder oder nahe Familienmitglieder vernichtet wurden. Dann kommt bei den Überlebenden die Frage nach dem Sinn des Weiterlebens auf. Sie fühlen sich in gewisser Weise den Toten stärker verbunden als den Lebenden. Bei den Tätern ist die Schuldfrage eine ganz andere. Je größer die Schuld ist, desto größer ist die Abwehr. Das gilt nicht nur für Nazitäter, sondern auch für Politiker wie beispielsweise Milošević, der ebenfalls unfähig war, Schuld anzuerkennen. Täter haben die Tendenz, sich als Opfer der Umstände zu präsentieren oder sich auf Befehlsnotstand zu berufen. Wenn man die NS-Ideologie genauer betrachtet, stellt man fest, dass es im Vorfeld schon paranoide Zuschreibungen gab, die auf die Opfer bzw. Juden projiziert wurden. Man hat sich quasi die Legitimation verschafft, gegen die konstruierte vermeintliche „Gefahr“ vorzugehen. So konnte bei den Tätern und Mitläufern kein Schuldbewusstsein für den millionenfachen Mord an Juden auftreten. Es braucht zur Bewältigung und nachträglichen Trauer nachkommende Generationen, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen.

Sie behandeln eine höchst aktuelle Thematik. Warum tun sich die deutschen Politikerinnen und Politiker dennoch schwer damit, das Wort „Krieg“ im Kontext der Bundeswehreinsätze zu benutzen?

Ich denke, es gibt eine Scheu aufgrund der historischen Erfahrungen. Deutschland hat zwei schreckliche Weltkriege entscheidend mit verschuldet. Das führte verständlicherweise zu großem Misstrauen in der europäischen Nachbarschaft und in Israel. Bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr nicht von Kriegshandlungen zu sprechen, hat mit der problematischen deutschen Vergangenheit zu tun. Und man möchte sich nicht mit der militaristischen deutschen Tradition identifizieren.

Ebenso kehren auch Bundeswehrsoldaten aus dem Krieg zurück. Inwieweit sind in diesen Familien die Kinder gefährdet?

Das hängt davon ab, wie groß oder klein die Kinder sind. Selbstverständlich bekommen sie mit, dass mit dem Papa oder der Mama nach einem Auslandseinsatz etwas nicht stimmt, wenn diese ein Trauma erlitten haben. Oft wird innerhalb der Familie nicht darüber gesprochen. Das ist ein Fehler. Wenn Mütter den Kindern erklären können, warum der Papa in bestimmten Situationen so reagiert, wie er reagiert, dann verstehen Kinder das besser und müssen möglicherweise nichts reinszenieren und imitieren.

Das heißt auch, dass man die Kette der emotionalen Weitergabe durch Kommunikation durchbrechen kann?

Es gibt gute Gründe, das zu hoffen. Zudem müssen traumatisierte Soldaten gute und langfristige traumatherapeutische Angebote bekommen. Ebenso ist therapeutische Unterstützung für betroffene Kinder notwendig

 

Interview GKS, (c) Prof. Dr. Moré

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